
Das Problem mit der Wahrheit ist, dass sie über einen großen Spielraum verfügt.
Wenn ein Arzt bei einer Behandlung sagt: tut nicht weh, ist das oft eine Lüge.
Wenn ein Autoverkäufer einem Kunden in der Beratung sagt, dass man mit diesem Auto auch einen Unfall bauen und sterben kann, ist das wahr – aber würde das jemand machen?
Wenn wir jemand kennen lernen wollen und gleich zu Beginn auf unseren großen Pickel am Po hinweisen – aber würde das jemand machen?
Wenn wir vor einer Narkose vor einer Operation vom Narkosearzt darauf hingewiesen werden, dass wir an dieser Narkose sterben können – wird das gemacht!
Wenn wir ein technisches Produkt verkaufen und ausführlich auf die möglichen Fehler hinweisen – wird das oft gerade von technisch orientierten Verkäufern gemacht!
Es scheint also Unterschiede zu geben, was denn wohl die ganze und reine Wahrheit beinhaltet.
Irgendwie bleibt in unseren Köpfen gern das Negative hängen. Vielleicht liegt das daran, dass uns negative Dinge schneller zu Ohren kommen als positive (über 100 gut gemachte Dinge spricht niemand, über ein schlechtes alle)
Ich unterteile in die medizinische Wahrheit und in die realistische
Die medizinische Wahrheit, wenn von 1 Million Fälle einmal etwas passieren kann, setze ich ein, wenn ich gesetzlich verpflichtet bin (Beipackzettel sind neben der Narkose ein anderes Beispiel dafür).
Bei der realistischen Wahrheit setzte ich Einschränkungen meines Produktes in dem Masse in meiner Beratung ein, indem sie Sinn machen (Anteil Reklamation im Vergleich zu funktionierenden Systemen) oder wenn mir die Einschränkung speziell für eine ganz bestimmte Anwendung wichtig erscheint.
Der Autoverkäufer wird also in Hinweisen zu sicherem Fahren mit diesem Auto das Thema Unfall behandeln.
Bei meinem potentiellen neuen Lebenspartner muss mein Pickel ja nicht das erste und wichtigste Gesprächsthema sein. Er ist auch nicht wichtig.
Der Narkosearzt ist verpflichtet, aber er hat auch ein sehr hilfloses Opfer vor sich.
Der gute technische Verkäufer wird abwägen, ob die Einschränkungen, die ihm bekannt sind, für den Kunden relevant sind und sie nur dann gezielt vorstellen.
Realistische Wahrheit bedeutet Verantwortung für etwas zu übernehmen – für die eigene Aussage, für das eigene Produkt, für die Relevanz für den Kunden.
Vielleicht ist das der Grund, warum immer wieder gern die medizinische Wahrheit genommen wird. Man versucht so, sich der Verantwortung zu entziehen.
Es gibt auch noch die optimistische Wahrheit, die uns in ihren Extremausprägungen auch schon oft begegnet ist. Manchmal ist sie ein Teil der realistischen Wahrheit, manchmal ist sie eine wissentliche oder unwissentliche Lüge, denn an keine Reklamationen glaube ich nicht. Aber wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung falsch eingesetzt wird und dann nicht funktioniert, ist das keine Reklamation.